Elke Heidenreicht soll nach der Lektüre von "Nicht Anfang und nicht Ende" gesagt haben: "Dieses Buch vergesse ich nie."
Mir geht es ähnlich. Logischerweise denke ich nicht ständig daran, aber sehr oft, vor allem, wenn ich mich im Maggiatal aufhalte, wie gerade jetzt. Plinio Martini (1923 - 1979) beschreibt das Tal, wie es einmal gewesen ist: Geprägt von Hunger, Armut und der Allgegenwärtigkeit des Todes. In diesen düsteren Beschreibungen tauchen oft ein bisschen Liebe und Hoffnung auf. Gori, die Hauptfigur, wandert 1927 nach Kalifornien aus, dort wartet vermeintlich ein besseres Leben. Zurück lässt er Maddalena, seine erste und einzige Liebe, seine Familie, seine Heimat.
Zwanzig Jahre später kehrt er zurück - und findet sich nicht mehr zurecht.
Und ich, die dieses Buch verschlungen hat (warum habe ich es erst jetzt entdeckt?), stolpere nun ständig über meine eigene Ahnungslosigkeit, die ich mitunter an den Tag legte. Natürlich war ich schon im museo die Valmaggia in Cevio. Natürlich kenne ich die alten Wege und die Geschichten über die Kastanien, die Tausende Leben retteten. Trotzdem. Wie ignorant ich war, das denke ich, wenn ich aus dem Coop heraustrete und Richtung Berge schaue, Richtung Cavergno, wo der Roman zu weiten Teilen spielt, und über das Plinio Martini schreibt: "Das Dorf wurde immer magerer." (Weil so viele auswanderten)
Auch Martino Giovanettina lebt in Cavergno. Er kommt gerade im aktuellen "Magazin" (Pay Wall) zu Wort, er sagt "Il fiume mangia la terra", der Fluss frisst die Erde, es geht in der Reportage um die Unwetter vor einem Jahr. Giovanettina hab ich einst porträtiert, es ging da um die Polenta, die am Kessi anbrennt. An dem Tag wars richtig heiss, daran erinnere ich mich, obwohl es erst Frühling war. Der Besitzer des La Froda in Foroglio ist auch Philosoph. Und Schriftsteller. In seinem Buch "Der Geruch der erloschenen Glut", in dem ich immer wieder gerne blättere, stehen die schönsten Widmungen (siehe Bilder). Aber zurück zu Martini:
Wenn es donnert, so wie gestern, schlage ich folgende Bauernregeln nach, die für die Bewohner:innen im Maggiatal überlebenswichtig waren, wie Martini schreibt: "Quando tuona di novembre, chi ha due vacche una la vende." Wenn es im November donnert, verkaufst du von zwei Kühen eine. Es ist erst Juni, aber der Winter ist nicht weit.
Es bewegt mich zutiefst, wie die Welt hier war, vor noch nicht allzu langer Zeit. Und wie scheinbar emotionslos die Hauptperson von ihrem Werdegang berichtet, wo man doch merkt, dass so viele Gefühle und Regungen unterdrückt werden: Heimweh, Zorn, Liebe, Trauer.
Ich werde nie mehr durchs Maggiatal fahren und nicht an Plinio Martini denken. (Nina)
Plinio Martini: "Nicht Anfang und nicht Ende", Limmat